Ich gebe es zu. Als Packers-Fan lebt man ein ziemlich verwöhntes Fan-Dasein. Man jammert auf hohem Niveau. Man jubelt auf Wolke 12. Man erlebt jetzt schon 25 (!) Jahre in Serie Quarterback-Leistungen von einem anderen Stern. Man liebt das kleinste größte Profisportteam der Welt. Das Herz schlägt für den Rekordmeister der NFL – für das einzig wahre „America’s Team“!

Kurz gesagt: Es hätte einen härter treffen können. Man hätte als Bears-Fan enden können…

Kurz zu mir und meiner Leidenschaft. Als Kind des Ostens kannte ich Football nicht vor 1990. Erst nach der Wende ergriff „der Feind“ Besitz von mir. Und sofort schlug mein Herz für das Team aus Wisconsin mit dieser ungewöhnlichen Vereinsstruktur und diesem Landei-Spielmacher mit dem unaussprechlichen französisch klingendem Namen: Favre.

Stolle führt sein Favre-Maria-Tattoo im Lambeau Field spazieren (damals war da noch Platz aufm Arm…)

Worauf ich hinaus will? Die Wahl über DEN einen Playoff-Moment, der für immer hängen bleibt, ist nicht leicht. Denn seither durfte ich unglaubliche 37 (!) Playoff-Spiele der Packers sehen. Siebenunddreißig. Darunter waren drei Super-Bowl-Teilnahmen (zwei Siege) sowie unzählige unvergessliche Playoff-Spiele. Die endeten mal mit einer positiven Nahtoderfahrung und mal mit Frust, Verzweiflung und einem lauten „Waruuuuuum“.

Spontan fällt mir da das 98er Wildcard-Game gegen die 49ers ein, als Jerry Rice im entscheidenden letzten Drive den Ball fumblete und die Schiedsrichter es übersahen. Acht Sekunden vor dem Ende fing Terrell Owens dann den Touchdown zum Niners-Sieg. Oder in der Saison 2003, als Seahawks Quarterback Matt Hasselbeck gegen sein Ex-Team vor der Overtime lautstark ins Mikro des Schiris schrie „We want the ball and we will score“, nur um Sekunden später eine Interception zu werfen, die Al Harris in die Endzone zum Sieg der Packers returnierte. Eine Runde später verlor man in Philadelphia in Overtime. Dabei standen die Eagles 72 Sekunden vor dem Ende der regulären Spielzeit bei einem vierten Versuch und 26 Yards und lagen 14:17 zurück.

2009 lagen die Packers bereits 0:17 und 10:24 in Arizona hinten, doch eine furiose Aufholjagd zum 45:45 brachte die Overtime. Und dort verlor Aaron Rodgers sein erstes Playoff-Spiel durch einen Fumble Return – obwohl ihm beim Sack klar ins Gesichtsgitter gegriffen wurde. 2014 gab es erst den Catch von Dez Bryant, der keiner war, und anschließend das dickste Ei der Playoff-Geschichte, als Green Bay in Seattle schon auf gepackten Super-Bowl-Koffern saß, und dann ein Spiel verlor, das man einfach nicht mehr verlieren konnte. Auch letztes Jahr gab es Drama. Wieder in Arizona. Wieder mit Overtime (Hail Mary von Rodgers inklusive). Und natürlich geht der Krimi der Vorwoche in Dallas ebenfalls in die NFL-Historie ein.

Im Heiligtum des Footballs

Ihr seht, es gibt so viele Playoff-Thriller in der Geschichte der Packers, das reicht für ein Buch. Doch ein Spiel habe ich euch unterschlagen. Denn über das möchte ich berichten – auch wenn es (mal wieder) eine schmerzhafte (im wahrsten Sinne des Wortes) Playoff-Pleite für die Packers war. Die Rede ist vom 2007er NFC Championship Game, welches Green Bay mit 20:23 nach Verlängerung gegen die Giants verloren hat. Und warum wähle ich ausgerechnet dieses Spiel? Ausgerechnet eine Niederlage?

Weil es auch ein Championship Game war – wie am kommenden Sonntag? Nein, eher nicht. Weil dieses Spiel genau heute vor neun Jahren stattgefunden hat? Nein, aber cooler Zufall. Warum dann? Weil ich dort war! Im legendären Lambeau Field! Beim drittkältesten Spiel der NFL-Geschichte! Und weil es das letzte Spiel von Brett Favre für die Packers werden sollte.

Ich will euch gar nicht so sehr mit den Einzelheiten des Spiels langweilen. Wer Packers-Fan ist, erinnert sich. Wer New York Giants-Fan ist, erinnert sich erst recht. Und alle von euch da draußen, die älter als 16 Jahre sind und von sich behaupten, Football Nerds zu sein, müssen sich einfach auch daran erinnern. Also kommen wir zum Wesentlichen:

Ich kam schon einige Tage zuvor in Wisconsin an. In Madison. Hab viele Freunde dort. Dass es am Gameday kalt werden würde, war klar. Wir reden hier immerhin von Wisconsin Ende Januar. Und dies war nicht mein erstes Rodeo im Käsestaat. Ich war 2001 bei meinen ersten beiden Packers-Spielen (gegen Chicago und Minnesota). Damals kam ich nicht nur nach Spielende in die Kabine, ich machte auch meine erste Erfahrung mit echter Kälte. Denn da mein Kumpel den Schlüssel im Auto vergessen hatte, als wir nach Spielende nur kurz was ablegen wollten, warteten wir fast drei Stunden auf den Schlüsseldienst. Mitte Dezember. Nachts. Draußen. Und mein Buddy nur im Long Sleeve. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kalt, kälter, Wisconsin

Worauf ich hinauswill: Ich hatte dicke Klamotten dabei. Und davon reichlich. Dennoch kletterte das Thermometer an diesem 20. Januar 2008 noch tiefer in den Keller. Wenn es die Tage vorher arschkalt war, konnte man jetzt wohl von dickdarmkalt sprechen. Tiefer ging es fast nicht mehr. Ich musste mir von meinem Freund Ben, der mich zum Spiel begleitete (übrigens ein Ex-NFL-Profi der Lions und Chargers), Klamotten leihen. Ich trug also Unterwäsche, darüber Thermounterwäsche, darüber eine Skihose, einen Plastikbeutel, zwei Sweatshirts, einen gefütterten Mantel – und ein Favre-Trikot. Für Hände und Füße hatte ich mir zudem an der letzten Tankte vor Green Bay noch kleine Wärmkissen besorgt. Und ein Sixpack für die letzten Kilometer war auch noch drin.

Ben (er trug wie rund 30.000 andere Fans im Stadion auch seine orangenen Jagdklamotten) und ich kamen recht früh an. Parkplätze gibt es nicht so viele rund ums Lambeau Field. Zum Glück lebt seine Tante drei Straßen entfernt vom heiligsten Rasen im Football. Es blieb also viel Zeit, vorzuglühen, Spaß zu haben und sich über Eli Manning lustig zu machen. Und natürlich konnte man die vielen skurrilen Gestalten genießen, die sich zu den Packers-Heimspielen einfinden. Typen mit angeklebten Eiszapfen, Typen oben ohne, Typen mit Jagdtrophäen auf dem Kopf, ein Vince-Lombardi-Papst, und, und, und…

Im Lambeau Field trifft man jede Menge seltsame Gestalten…

Ich Glückspilz hatte einen Pressepass. Mit dem bin ich ins Stadion, während Ben seinen Platz in der Nordendzone eingenommen hat. Im Pressebereich angekommen hatte ich mit meinem Outfit die Lacher auf meiner Seite. Doch ich hatte einen Plan, einen Grund, warum ich da nicht im feinen Zwirn samt Krawatte aufgekreuzt war. Ich wollte das Spiel nicht von dort oben verfolgen (das hätte auch keinen Spaß gemacht. Denn tatsächlich war die Media Box so voll, dass alle ausländischen Journalisten an der hinteren Wand sitzen und das Spiel auf dem Fernseher sehen mussten. Im Gang stehen war untersagt. Die Idioten, die das gemacht haben, hätten auch zuhause bleiben können). Aber wie gesagt, euer Stolle hatte einen Plan. Also bin ich in meinem Michelin-Männchen-Outfit raus in die Kälte. Ich wollte das Spiel als Fan sehen. Wenn mich ein Ordner fragte, zeigte ich meinen Pass und meinte, ich würde einen Artikel über die Atmosphäre im Lambeau Field schreiben wollen und dafür müsste ich sie auch hautnah erleben. Danke, dann viel Spaß, Mr.

Jubel, Frust und Frostbeulen

Da stand ich also. Inmitten der Meute. Tiefgefroren. Beim Kickoff waren es -18 Grad Celsius. Dank des Windes lag die gefühlte Temperatur aber bei -31 Grad Celsius!!! Und ich hätte nicht glücklicher sein können. Vier Viertel lang stellte ich mich den siebirischen Temperaturen entgegen (ich war nicht allein, direkt neben mir saß die Mama von Ryan Grant). Bewunderte meine Helden. Brett Favre. Donald Driver. Mark Tauscher (Go, Badgers!), Chad Clifton, Aaron Kampman, Charles Woodson, Nick Collins, Kabeer Gbaja-Biamila und natürlich John Kuuuuuuuuhn.

Foto links: Ben im Ausgehanzug – Foto o.r.: Volle Hütte – Foto u.r.: Kurzärmlig, was sonst!

Ich flippte aus, als Driver einen 90-Yard Touchdown-Pass von Favre fing (das längste Scoring Play der Packers-Playoffgeschichte). Ich drehte durch, als die Giants im dritten Viertel in Führung gingen, jubelte wieder, als ein weiterer Touchdown-Pass vom alten Gunslinger das Spiel wieder drehte, und war der Verzweiflung nah, als New York direkt konterte. Im vierten Viertel war die Kälte fast nicht mehr auszuhalten. Die Wärmkissen in den Schuhen gaben den Geist auf. Ich merkte, wie die Eiseskälte immer mehr in meine Glieder kroch. Doch als O-Liner Tauscher nach einer Interception beim folgenden Return einen Fumble des Giants-Verteidigers eroberte und Mason Crosby wenig später zum 20:20 ausglich, spürte ich neue Lebensenergie. Auch wenn jede Bewegung schmerzte, klatschte ich mit den Fans um mich herum ab.

Die letzten Minuten des vierten Viertels waren eine Qual. Mike McCarthy zeichnete sich (schon damals) für sein konservatives Playcalling in entscheidenden Spielphasen aus. Übersetzung: Punts. Die Giants marschierten, doch zwei Mal versagten Kicker Lawrence Tynes die Nerven. Zuletzt mit dem letzten Spielzug der regulären Spielzeit. Overtime.

Irgendwie war aber keiner im Stadion mehr in der Lage, die Situation zu feiern. Es war einfach scheiße kalt. Ich spürte meine Füße nicht mehr richtig. Und meine Hände waren eh nur Eisklumpen. Doch Favre erlöste seine Anhänger mit einem Play, wie nur er es hinbekommt. Denn auf fünf geniale Gunslinger-Spielzüge folgte ein gewöhnlich ein Headscratcher. Der kostete die Packers in diesem Fall den Sieg. Interception. In der eigenen Hälfte. Wenig später erhielt Tynes seine dritte Chance. Die nutzte er. Aus. Vorbei. Erfroren. Gemeinsam mit den anderen rund 73.000 Fans (damals war das Stadion noch etwas kleiner als heute) trotteten alle wie eine Horde Tiefkühlfischstäbchen aus dem Stadion. Niemand hatte noch Kraft zu fluchen oder sich zu ärgern. Die Kälte hatte alle fest im Griff.

Was ich mit der Anekdote sagen will: Natürlich ärgert man sich als Fan über eine Niederlage. Vor allem, wenn man so nah dran war am Super Bowl. Doch wenn ihr einmal die Chance habt (oder wenn ihr sie bereits hattet), und euer Team live im Stadion erleben dürft, dann werdet ihr sehen, worum es wirklich geht. Um das Dabeisein. Um die Gemeinschaft. Um das Erlebnis. Die Reise. Ich werde diesen Tag nie vergessen (meine Füße und Hände auch nicht). Und was damals noch niemand im Lambeau Field ahnen konnte: Es sollte das letzte Spiel von Favre für „Green and Gold“ gewesen sein. Das Ende einer Ära.

Thanks for all the memories, #4.

Schnappschuß aus der Jugend. Dezember 2001: Erster Besuch in Green Bay.

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